Erlebnisse in Dischingen
Als Nachbarn vom Dischinger Bahnhof hatten wir immer guten Kontakt zum Härtsfeldbähnle und den Bahnhofsvorstehern. Alle Verwandten und Bekannten, die uns besuchten, kamen ja ab Aalen mit der Härtsfeldbahn, wurden am Bahnhof abgeholt und bei der Abreise wieder hinbegleitet.
Einmal hatten wir uns schon verabschiedet, winkten, das Zügle fuhr an, kam aber wieder zurück und rangierte noch ein paarmal hin und her. Endlich ging es los. Noch einmal winken. Da kam Frau Binder, die Bahnhofsvorsteherin, aus dem Haus gerannt mit einem Brief in der Hand, den sie vergessen hatte mitzugeben. Der Zugführer verstand, und das Zügle fuhr zurück, Frau Binder überreichte den Brief, und nun ging es wirklich los.
Wir konnten noch einmal winken. Meine Eltern wollten in Urlaub fahren nach Italien. Das erste Stück bis Dillingen natürlich mit der Härtsfeldbahn. Wir brachten sie zum Bahnhof, winkten, und es ging los. Da stand auf dem nächsten Grundstück (ehemalige Molke) die Klara, um auch zu winken. Meine Mutter, die sich schon hinsetzen wollte, sprang auf, fuhr mit der Hand zum Fenster hinaus, aber so nahe am Gesicht meines Vaters vorbei, dass sie ihm die halbe Brille von der Nase riss. Die eine Hälfte lag nun draußen im Gras, die andere hatte er auf der Nase. Das Zügle hatte schon Tempo und brauste davon. Diese Aufregung! Ich rannte nach Hause, stürmte in die Praxis, wo mein Mann gerade Sprechstunde hatte und beschwor ihn, gleich mit dem Auto der Bahn nachzufahren und Opas halbe Brille hinzubringen. Ich erzählte inzwischen den Leuten im Wartezimmer, was passiert war, und ich glaube, sie hatten Verständnis und waren auch neugierig, wie die Sache ausginge.
Mein Mann fuhr so schnell es die Polizei erlaubt, aber das Bähnle war im Vorteil. Es musste keine kurvigen Straßen und durch Dörfer fahren. Erst in Ziertheim trafen sie sich. Da stand der Schaffner schon auf dem Bahnsteig und meinte: „Da soll ebbes mit’r Brill sein“, übernahm die Hälfte, und die Reise konnte weitergehen.
Einmal ging unsere Tochter spazieren, tänzelte und balancierte auf den Bahnschienen. Das war früher verboten, aber der Zugverkehr war schon lange eingestellt. Plötzlich hinter ihr ein Tuten und Bimmeln: das Zügle! Sie sprang beiseite, der Zug hielt und heraus kletterte eine fröhliche Herrengesellschaft. Es war die letzte Sonderfahrt. Die Herren freuten sich, dass sie die „Schwäbische Eisenbahn“ noch „life“ erlebt hatten.
An einem Feiertag am frühen Nachmittag kamen wir von Neresheim. Da – in einer Kurve bei Iggenhausen parkten sehr unvorsichtig ein paar Autos. Aber was war das? Unten auf den Schienen standen sich zwei Triebwagen gegenüber und an der Böschung lagen Verletzte. Ein Schaffner lief kopflos hin und her mit einer Verbandtasche in der Hand. Man hatte noch keinen Arzt erreicht, so kam mein Mann gerade recht und konnte Erste Hilfe leisten, bis der Krankenwagen aus Neresheim kam und ein paar – zum Glück nicht schwer Verletzte – mitnahm. Wie konnte das passieren? Es war der 1. Mai 1964, und einer der beiden Zugführer hatte nicht daran gedacht: Bei Feiertagsverkehr hätte er am Katzensteiner Bahnhof den Gegenzug abwarten müssen. Das war keine lustige Geschichte, aber sie hätte schlimmer ausgehen können.
Gisela Moeferdt, Dischingen